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Sein Leben verlieren
Der jüdische, in Frankreich leben- „Antlitz“, das meint natürlich sich umkehrt in die Angst, einen
de Philosoph Emmanuel Levinas nicht das Gesicht, das wir sehen, Mord zu begehen... den Mord
betont, ähnlich wie Buber: „Zum sondern: „>Antlitz< - ich habe es mehr zu fürchten als den Tod.<“
Menschen wird der Mensch da- immer so beschrieben - ist Nackt-
durch, dass er den Anderen hört heit, Unbeholfenheit.“ Das klingt radikal: Die Angst zu
und ihm antwortet. Sein Mensch- „Die Epiphanie des absolut Ande- verletzen sollte an die Stelle der
sein ist begründet vom Anderen ren ist Antlitz, indem der Andere Angst treten, verletzt zu werden!
her.“ mich aufruft und mir einen Be-
Doch – auch in Abgrenzung zu fehl erteilt, und zwar durch seine Wir bekommen eine ethische statt
Buber – betont er: Nacktheit, durch sein Entblößt- einer ontologischen Identität: Ich
„Bei Buber kommt sofort die Re- sein. Seine Gegenwart ist eine Auf- bin, weil ich liebe, weil ich ge-
ziprozität. Im Ich-Du-Verhältnis forderung zu antworten.“ horche, weil ich schenke, weil ich
steht für Buber das Ich zum Du Wenn der Andere sich mir in sei- mitleide und mitsterbe! Weil ich
genau wie das Du zum Ich. Wissen ner Nacktheit, Unbeholfenheit, in verzichte, mich selbst zu schützen,
Sie ... für das Entdecken des Antlit- seiner ganzen Armut zeigt, dann und dadurch davon frei werde, ver-
zes bevorzuge ich noch ein anderes bin ich gefordert, mich ihm zuzu- letzen zu müssen.
Wort: misericorde, Barmherzig- wenden, zu antworten. Das Antlitz
keit, wenn man für das Leiden des des Anderen ist – „ein Imperativ: Leben aus der Beziehung unter
Anderen einsteht.“ >Du sollst mich nicht töten<, und dem Anderen!
>Du sollst mich in meinem Ster- Wie Jesus!
In der Begegnung mit dem An- ben nicht alleine lassen<“(nach Le-
deren, im Antworten gilt es, sein vinas). Levinas, Emmanuel. 1989. Humanismus des
Ich letztlich zu verlieren, nicht aus Eine neue Identität formt sich. anderen Menschen , Hamburg: Meiner.
Schwäche und nicht, um es (heim- „Das Verhältnis zum Anderen stellt Levinas, Emmanuel. 1998. Die Spur des Ande-
lich oder unbewusst, und auch mich in Frage, entleert mich mei- ren [The trace of the other]. 3rd ed. Freiburg:
nicht im Ich-Du) wiederzugewin- ner selbst und hört nicht auf, mich Karl Alber.
nen, sondern aus Barmherzigkeit: zu entleeren, indem es mir immer
„Das Verhältnis zum Anderen stellt neue Ressourcen entdeckt. Ich
mich in Frage, entleert mich mei- wußte gar nicht, dass ich so reich
ner selbst.“ bin, aber ich habe nicht mehr das
Für die besondere Begegnung mit Recht, etwas zu behalten.“
dem Anderen gebraucht Levinas „Die Einzigkeit des Ich, das ist die
den Begriff „Antlitz“: Tatsache, dass niemand an meiner
Stelle antworten und verantwort-
lich sein kann.“
Das Antlitz „Das Ich ist in seiner Wahrheit,
>wenn seine Angst vor dem Tode
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